Normalerweise heisst es ja, man soll ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen. Und noch weniger die Werke eines Autors nach seinem Namen. Dennoch musste der Zufall erheblich nachhelfen, um mich auf eine Autorin und ihr Werk aufmerksam zu machen, die ich die ganze Zeit zuvor schön in eine bequeme Schublade gesteckt und dann ignoriert hatte.
“Mary Gentle”, das klingt so derart nach hausfrauengerechter, schwülstiger Romantic Fantasy, dass man schnell mit entsprechenden Vorurteilen bei der Sache ist. Dann jedoch, dann fiel mir eines Tages “Die letzte Schlacht der Orks” in die Hände. Eine köstliche Satire auf all das, was High Fantasy manchmal so steif und unerträglich und sich selbst viel zu ernst nehmen lässt. Und als der örtliche Karstadt wieder Buchmängelexemplare verramschte und ich mit mehr Glück als Verstand auf diese Weise an alle vier Teile der Ash-Romane kam …
Mary Gentle hat einen Abschluss in Politikwissenschaften, Anglistik, Geographie, Geschichte und Kriegswissenschaften. Mit einem derart soliden (und zugleich untypischen) akademischen Unterbau ist es auch nicht verwunderlich, dass ihre Romane alles andere als das typisch weichgespülte 08/15-Fantasy-Gezumse sind, welches sonst in den Produktplanungsbüros der großen Verlage vorbereitet wird.
“Ash – A Secret History” ist das, was man so gemeinhin als Alternate History bezeichnet. Im ausgehenden Spätmittelalter Europas versucht der Söldner-Hauptmann Ash sich selbst und ihre (!) Kompanie mit allerlei Kriegshandwerk im Auftrag der damaligen Fürstenhäuser über die Runden zu bringen. Und da es an Krieg natürlich nie mangelt, sind ihre Auftragsbücher immer voll und es herrscht auch kein Mangel an Rekruten und zahlungswilligen Auftraggebern. Doch eines Tages wird Europa von den Westgoten überfallen, die in Nordafrika ein mächtiges Reich geschaffen haben, die sich selbst als Reichsnachfolger des Römischen Imperiums und Bewahrer des Christlichen Glaubens betrachten und Ash sieht sich in Ereignisse gezogen, die ihr ganzes Weltbild auf den Kopf stellen werden. An dieser Stelle wird auch ein Historiker stutzig, der in unserer Gegenwart diverse überlieferte Chroniken und Texte aus dieser Zeit findet und sich natürlich fragt, wo sich denn dieses angebliche Westgotenreich befunden haben soll, da nichts in der bekannten Geschichte darauf hindeutet, dass es in Nordafrika jemals so eine Art Staat gegeben hat. Immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselnd, werden die Widersprüche zwischen den damals beschriebenen Ereignissen und heutiger Geschichtskenntnis immer größer und die angeblich sensationelle geschichtswissenschaftliche Entdeckung immer unglaubwürdiger, bis vor der Küste Tunesiens archäologische Ausgrabungen gemacht werden, die auch unser heutiges Weltbild komplett in Frage stellen.
Mary Gentle schreibt packend und mitreißend. Ihre Figuren und Charaktere funktionieren im Rahmen der Geschichte und bekommen mit jeder Menge an historischen Details und Feinheiten auch Tiefe und Eigenständigkeit. Da agieren keine heutigen Schauspieler vor mittelalterlicher Kulisse, sondern man bekommt den Eindruck, dass es sich tatsächlich so und nicht anders damals zugetragen haben könnte. Die Figuren sprechen, denken und handeln glaubwürdig, ohne dass Gentle dabei Gefahr läuft in wohlbekannte Klischees zu verfallen. Jede Menge Fußnoten laden zum Recherchieren ein, um sich mit der Geschichte und Welt dieser Tage zu beschäftigen, die zwar sehr viel brutaler und rabiater war, als wir es heute gewohnt sind, die aber auch weit von dem entfernt war, was wir heute gerne als “Finsteres Mittelalter” bezeichnen. Man merkt zudem deutlich, dass Gentle sich nicht nur mit Militärgeschichte, sondern auch mit Militärpsychologie beschäftigt hat, denn nicht nur, dass die Söldner und Ritter und Armeen dieser Romane (bis auf einige gezielte Ausnahmen) sich historisch korrekt, detailreich und ziemlich drastisch gegenseitig die Schädel einschlagen, Gentle lässt auch die Folgen nicht aus, die nach dem Ende der Schlacht die Überlebenden erwarten. Gestank, Blut und Gedärme, Infektionen, Krankheiten und die ersten Versuche aufgeklärter Medizin sich aus der Vorstellungswelt falsch verstandener Übersetzungen antiker griechischer Texte zu lösen. Sie macht deutlich, wie es ist mitten im dichten Handgemenge zu kämpfen, wie die ersten Pulverschußwaffen und Kanonen das Schlachtfeld und die Kriegsführung umkrempeln, warum sich Menschen so etwas auch noch freiwillig als Beruf antun, wie sie mit all dem fertig werden (oder auch nicht), wie Soldaten leben, fühlen und denken, warum sie Offizieren folgen oder auch nicht. Und sie lässt auch nicht den politischen Aspekt außer Acht, der Grund und Ursache für nahezu alle dieser Konflikte ist.
Frau Gentle weiß, worüber sie schreibt. Dies aber ohne belehrenden Unterton, sondern so locker aus dem Handgelenk, dass man sich inspirieren lässt und beginnt sich mit den damaligen Zeiten zu beschäftigen. Dann aber wird man schnell feststellen, dass wir nicht mit letzter Sicherheit sagen können, ob unsere Vergangenheit so und nicht anders ausgesehen hat, haben sich damalige Chronisten in der Regel nicht wirklich dafür interessiert der Nachwelt ein genaues und exaktes Bild der Ereignisse zu vermitteln. Denkbar ist vieles und wenn man der grundlegenden Prämisse dieser Romane folgt, sogar im wortwörtlichen Sinne 🙂
Ohne Wenn und Aber, voll und ganz und ohne Einschränkungen zu empfehlen.
Ich mag Autoren, die als studierte Menschen und Wissenschaftler wissen, was sie da tun. Es schon seinen Grund, warum ich auch Steven Eriksons “The Malazan Book of the Fallen” so sehr schätze, denn Erikson ist Anthropologe und Archäologe. Ich bin unbedingt dafür, dass mehr Wissenschaftler ihre brachliegende literarische Ader entdecken.
Wenn du mir nur sagen könntest, wo ich die Bücher zu kaufen bekomme… ich suche schon seit Jahren (kein Scherz!) nach diesen Büchern und zwar genau in den Versionen, deren Cover im Artikel aufgelistet sind.
*seufz*
Ich habe sie vor zwei Monaten in diesen Verramschungstischen gefunden. Stück für Stück. Ansonsten kann Dir bestimmt der Amazon Marketplace weiterhelfen, denn da habe ich die Cover her 🙂
Nicht umsonst war Tolkien Philologe und hatte einen Lehrstuhlt für Anglizistik inne. Was das für sein literarisches Werk bedeutet hat, braucht man niemandem mehr erklären.
Die von Dir beschriebenen Bücher machen mich auch neugierig. Aber dass es sich um eine Frau als Söldnerhauptmann handelt, das ist für mich starker Tobak. 🙂
In der Tat, das stinkt ja geradezu nach Zeitgeist.
Anglistik bitteschön ;-), nicht Anglizisik…
Zunächst war er ja als Prof. für das Angelsächsische angestellt (von dem man als heute lebender Deutscher übrigens noch erstaunlich viel versteht, wenn einem das einmal langsam vorgelesen wird ^^), später, 1945, dann der Wechsel zur Professur für Anglistik.
Ich kann bei Romanen und PC Spielen mich leider nie für Frauen als Protagonisten begeistern. Mir fehlt da, schätze ich, die Identifikation oder so.
Interessant: ein Freund von mir nimmt – sofern wählbar – bei PC Spielen stets einen weiblichen Charakter (!).
Bestimmt schwul! 😉
Danke für diesen Blogeintrag… eine Bekannte hat die Woche Geburtstag, und ist ein richtiger Lesewurm. Habe mir schon den Kopf zermartert was ich ihr geben könnte, jetzt habe ich diese Sorge los 😉
Ah, danke schön. Immer nett die Buchtipps hier.
Kommt nat. in den „Wennzeitistdannlesen“ Ordner.
Mit etwas Glück ist das Kind in 18 Jahren aus dem Haus, die Frau ist beim Shakren Seminar auf Madeira und ich kaufe mir einen gigantischen Elmar Gunsch Ohrensessel, eine rot/grün karrierte flauschiflausch Kuscheldecke, n Kilo WhiteWidow und dann, jaha dann werde ich alle Bücher lesen die du hier mal empfohlen hast. Wirklisch. Ehrlisch. Indianerehrenwort.
Sag mal was ist eigentlich mit Pratchett? Habe in die Richtung noch nie etwas von dir gehört, keine Anspielungen, keine Zitate, nichts. Hebst du dir das Werk dieses genialen Weltenerschaffers noch auf bis es evtl keine Computer mehr gibt?
Überhaupt. Könntest du nicht mal Tipps zu deinem sensationellen Zeitmanagement geben? Wie machst du das alles? Lesen,zocken,schreiben,arbeiten.
Bist du etwa mehrere?
Stell Dir vor, wieviel Zeit Du damit verbringst, um jeden Werktag von Deiner Haustür zu Deinem Arbeitsplatz zu gelangen. Und wenn man dann gelernt hat, selbst in überfüllten Strassenbahnen gelassen das Buch auszupacken und zu lesen (wie das übrigens jede Menge Commuter tun, keine eGadgets, RICHTIGE Bücher), dann hast Du die Zeit, um das alles in die traditionellen 24h zu packen.
Denn der Trick besteht darin, sich die Zeit nehmen zu wollen und nicht, sie zuerst haben zu müssen 🙂
Kriegswissenschaften? Im Ernst, das ist kein Studiengang des letzten Jahrhunderts, so wie Nationalökonomie und Schöngeist?
Jep, Pratchett dient mir alle Zeiten als Namensgeber für Fantasy-Figuren im Spieleuniversum von Blizz und sein Geschriebenes lesen macht noch mehr Spass. Wenn schon düsters Mittelalter dann durch die Augen von Rincewind betrachtet.
Und höre hier auf rumzunölen wer Schreibtischtäter ist.