Kreischen wie ein kleines Kind

Im Laufe der Jahre, mittlerweile Jahrzehnte, betrachtet man die Videospiellandschaft immer abgeklärter, ja, auch immer zynischer. Man hat so ziemlich alles gesehen, es gibt nur Varianten von Varianten, die meisten davon so abgedroschen und öde, dass man sie schon vergessen hat, kaum sie dem Blickfeld entschwunden sind.

Es gibt natürlich, gemäß Sturgeons Law, aber auch immer Spiele, die ein wenig länger im Gedächtnis bleiben. Letztlich habe ich ja eine Reihe von Titeln kurz vorgestellt, von denen ich stark annehme, dass sie zu diesen 10% gehören werden. Doch keines, KEINES dieser Spiele ist in der Lage diesen “Sense of Wonder” zu erzeugen, den man als Kind, als Jugendlicher noch verspürt hat. Was jetzt nicht zwangsläufig an den Spielen, sondern meistens an einem selbst liegt. Doch manchmal kommt man ins Grübeln. Manchmal, so alle paar Schaltjahre, stößt man auf ein Spiel, welches den alten Sack in mir, ganz tief drinnen in seiner verbeulten und verkrusteten Hülle aus vernarbtem Erfahrungsgewebe, berühren kann. Sanft wie mit einer Feder. Und so durchdringend wie der Stoß mit einem spitzen, scharfen Schwert. Mitten ins Herz.

Eines dieser Spiele ist “Ghost of a Tale”.

Vor drei Jahren gab es wohl eine kleine Indigogo-Kampagne, die eine Summe von sage und schreibe … 48.700 Dollar eingebracht hat. Nicht 480.000 Dollar, nicht 4.8 Millionen. Nein, nur Achtundvierzigtausend.

Drei Jahre später und lediglich eine ganz kleine Handvoll (wortwörtlich eine Handvoll, wenn die Hand einem Sägewerkarbeiter gehören würde) Mitwirkende sieht “Ghost of a Tale” folgendermaßen aus:

Ghost_of_a_Tale_01

Eine wunderwunderschöne Märchenwelt, voll mit sprechenden Tieren, Mäusebarden, Rattenwachen und Froschpiraten. Gestopft voll mit Details, einem Art Design direkt aus einem Jim Henson-Film und ganzen Schiffsladungen voller Charme. Und das alles auf einem Produktionsniveau, welches bei anderen Entwicklern & Publishern für mindestens 10 Vollpreisreleases ausreichen würde. Obwohl sich der Titel offiziell erst noch im Early Access-Stadium befindet.

Ghost_of_a_Tale_MiloSpielerisch scheint dies eine Art Adventure-RPG mit Schleich- und Actioneinlagen zu sein. Nix revolutionäres. Solide, bewährte Gameplay-Mechanik. Aber so, so, so … wunderwunderschön! Und charmant! Und knuddlig! Alleine an den Ruheanimationen der Hauptfigur, Milo der Mäusebarde, kann sich kaum sattsehen.

Vor allem hier merkt man den Hintergrund des Projektverantwortlichen, Lionel Gallat, der früher bei Universal und Dreamworks Animationsspezialist und –direktor für Filme wie z.B. Despicable Me verantwortlich war. Da stimmt jedes virtuelle Muskelzucken, jede Geste sitzt und aus einer Ansammlung von Daten wird ein lebendige, atmende und überzeugende Figur. Vor allem die Ohren, diese hin und her zuckenden Ohren. So große hin und her zuckende Ohren! Und der Glockenbommel. Dieser Glockenbommel!!!!!

Dieses Augenmerk auf Details zieht sich durch das gesamte Spiel. Nichts wirkt unfertig, nichts wirkt wie ein billig zusammengekauftes Asset. Man mag es kaum sagen, aber das ist die vielgescholtene Unity-Engine. Und der Grund für den schlechten Ruf dieser Engine liegt nicht an einer technischen Unzulänglichkeit oder an einer schlechten Bedienbarkeit, mangelnder Dokumentation oder fehlendem Produktsupport, sondern an dem Umstand, dass sich derart viele unbegabte Vollhonks mit Unity austoben, dass man als Laie zu dem Schluss kommen könnte, die Unity-Engine könne nichts anderes als abgrundtief miserable Asset-Flip-Katastrophen zu produzieren.

Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Denn das Werkzeug ist gar nicht so wichtig, wenn es von jemandem mit Talent und dem Blick für Details bedient wird. Ich verweise in diesem Zusammenhang immer wieder gerne auf Hexen II aus dem Jahr 1997, auf Basis von id Tech 2 aka Quake, wo man heute noch auf Szenen stößt, die instinktiv den Griff zur Screenshot-Taste auslösen. Weil bei Raven Software damals eine kleine Gruppe äußerst talentierter Entwickler und Künstler arbeitete, die aus den vorhandenen Möglichkeiten mehr herausholen konnten, als man durch ein simples “Bedienen” der Tools jemals erzielen könnte.

Lionel Gallat und seine Handvoll Mitstreiter scheinen zu dieser Art Mensch zu gehören. Talentiert, kreativ, detailversessen!

Ich bin so begeistert, dass ich heute noch schlappe 15 Euro für die GOG-Version ausgeben werde (20 Euro Standardpreis – 10% Preisnachlass – Store Credit).

Wer mehr wissen will, Jim Sterling ist begeistert und hat mich mit seiner Begeisterung angesteckt, weil ich nach nur fünf Minuten schon restlos begeistert war:

Und wenn Jim Sterling, der sein Geld seit über einem Jahrzehnt damit verdient sich durch 90% Ausschuss zu wühlen, um die wenigen Perlen zu finden, die es wert sich gespielt zu werden (auch wenn zwischen seinen 10% und meinen 10% nicht immer 100% Übereinstimmung besteht), mit immer seltener anzutreffender Begeisterung über eine Stunde lang diesen Early Access-Titel vorstellt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Begeisterung berechtigt ist.

Ein Spiel nicht nur für angetraute weibliche Mitglieder des Haushaltes und eventuell herumspringender Nachwuchs, sondern auch und gerade für zynische und abgebrühte Senior Gamer.

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Ghost of a Tale.

In mir erklingt eine Saite, die ich im Laufe der letzten Jahre kaum noch gehört habe … und ich denke mir, dass es nicht unbedingt an mir alleine liegt, wenn mir mehr als 90% aller Spiele nur als seelenlose, routiniert am Fließband hergestellte, interaktive Geldanlagemöglichkeiten erscheinen. Nicht, dass ich Mr. Gallat und seinem Team wünsche unter der Brücke übernachten zu müssen, aber zwischen “Kann von seinem künstlerischen Werk gut leben” und “Geht jeden Tag in die Spiele-Entwicklungsfabrik zum malochen” bestehen immer noch gewaltige Unterschiede. Kunst und Geld verdienen schließen sich nicht zwangsläufig aus, doch sobald der Kommerz ins Spiel kommt, ist in der Regel Schluss mit Kunst. Und es gibt viel, VIEL zu wenig Kunst in Spielen. Viel zu wenig Spiele lassen mich vor Begeisterung kreischen wie ein kleines Kind, wenn der Papi lustige Geräusche mit dem Mund macht. Viel zu viele Spiele werden NUR gemacht, damit Geld gemacht werden kann.

Ghost of a Tale wirkt nicht wie eines dieser Spiele. Hier hat jemand auch viel Herzblut hineingesteckt.

Los, hopp! 20 Euro sind nicht zu viel, um jemanden dafür zu belohnen Herzblut vergossen zu haben. Denn das sollte der Kaufpreis für Spiele sein. Eine Belohnung, die man einem Künstler für dessen Werk entrichtet. Nicht eine nüchterne Nutzungsgebühr, die man an einen gelangweilten Buchhalter überweist.

Sollte.

23 Kommentare zu „Kreischen wie ein kleines Kind

  1. Nett! Danke für den Tip! Aber ich warte lieber bis das Spiel wirklich fertig ist. Für early access ist es mir zu schade, da es höchstwahrscheinlich beim einmaligen Durchspielen bleiben wird. Ist schon absehbar, wann es richtig-fertig ist?

  2. Das Spiel ist wirklich super gemacht. Ich hatte es mir vor ein paar Tagen als early access bei GOG gekauft, obwohl ich mit dem eigentlichen spielen auf die final version warten werde, einfach um den Entwickler zu unterstützen. Ein so liebevoll gemachtes Spiel habe ich schon lange nicht mehr gesehen.

    Ok, die early access hat schon noch Probleme. Ein paar minor Bugs, zum Beispiel. Aber ich bin trotzdem froh, es gekauft zu haben, schon der Teil der jetzt da ist ist einfach toll gemacht. Und hoffentlich ermöglicht der early access die endgültige Version zu finanzieren.

  3. Würde mich mal interessieren, wie die sich die bisherigen 3 Jahre finanziert haben. Von den 48.000 Dollar, abzüglich Gebühren, Steuern, allem möglichen, kann vielleicht ein Mensch ein Jahr lang leben, aber nicht X Leute über 3 Jahre. Bei Gelegenheit muss ich dem mal hinterher googlen. Das Spiel sieht auch echt nett aus, mal schauen.

  4. Ich denke mal, dass man in der Filmindustrie ab einer bestimmten „Hierarchieebene“ nicht soooo schlecht verdient. Gut möglich, dass hier viel eigenes Geld drinsteckt. Die Hauptarbeit hat er getätigt, alle anderen haben wahrscheinlich auf Freelancer-Basis Teilbereiche abgedeckt. Auf jeden Fall ist das kein festes Team mit fixen Gehältern.

  5. Super Tipp, danke! Gerade Ende des Jahres bin ich immer froh, wenn ich viele neue Spiele testen kann, gerade wenn es draußen kalt ist und ich in Ruhe drinnen spielen kann 🙂

  6. Na Klasse! Ganz toll, kannst stolz auf Dich sein!

    Jetzt habe ich so lange Jahre Early Access erfolgreich umgangen und nun das! Grmpffff…

    P.S.: Ist es eigentlich normal, dass ich als Mann mittleren Alters ohne Affinität zu Plüschtieren, Kätzchen, Häschen (quasi alle Arten von …chen) beim Spielen den Protagonisten aus dem Bildschirm klauben und knuddeln will??

  7. Nein, das ist nicht normal. Ich habe schon einen Termin für übernächste Woche, auch Du solltest Dich in Behandlung begeben. Es gibt Spiele für Erwachsene, so mit Blut, Asche, Feuer, Gedärmen und SM-Sex, das sollten wir uns tagtäglich reinziehen. Und morgen schreibe ich was über Scorn, so!

    http://www.scorn-game.com/

    *schüttel*

  8. So. Nach Jahren des Lesens eine kurze Rückmeldung: Danke erstmal für deinen Blog!
    Auch ich bin auch der Suche nach diesem Gefühl von früher – der Beitrag klang richtig gut und ich habe das Spiel soeben bei Steam gekauft. Ohne vorher einen Trailer zu sehen. Ich lass mich überraschen. Danke und danke.

  9. Ahh, OK. Dacht‘ ich mir schon fast. Tja, das muss dann wohl sein, eine Abhärtungstherapie also. Danke nochmal Dr. Hazz. (*vorbereiteSoldierofFortune1Installation*)…

    … *unterbrecheSoldierofFortune1Installation*…

    … Hmmm, später, lasst uns …

    …nochmal kurz zu GoaT kommen 😀

    Bei den Details geh ich fest. So habe ich mich beim Anspielen gewundert, warum kein Klingeln bei den Kopfbewegungen mit Schellenkappe zu hören ist, wenn der Erschaffer dieser Welt ansonsten so akribisch auf Details achtet. Zweiter Gedanke war: Klar, ansonsten ist Stealth am Arsch, aber dennoch! Und weißt Du was? Nachdem ich die Beschreibungsfunktion (Y-Taste bei ausgewähltem Item) entdeckt und bei den extrem passenden und ausführlichen Erklärtexten denjenigen für die Kappe ausgewählt habe, hat es mich vor Lachen fast weggedengelt. Da steht so sinngemäß „Die Schelle am Hut eines Barden ist traditionell stumm. Die Rassel wird deshalb nicht nicht in die Schelle eingelegt, um den Träger an die Wichtigkeit von Stille in der Musik zu erinnern *hochtrabendschwall* … Naja, der eigentliche Grund dieser Tradition ist aber wohl, dass das ständige nervige Gebimmel den Träger so auf den Keks gehen würde, dass dieser verrückt würde.“ F***in‘ hilarious!

    Apropos am Arsch! –> Hast Du mal die genüsslich geschlossenen Augen der Maus gesehen in genau dem Moment, wenn sie sich bei der Idle-Animation am Arsch kratzt?

    Apropos Animation! –> Hast Du mal die Zugrichtung der Kerzenflamme auf dem Leuchter der Maus gesehen wenn sie rennt oder die Richtung wechselt? Oder der simulierte Rauch der Fackeln?

    Apropos Beleuchtung! –> Hast Du mal die geilen Schatteneffekte gesehen, wenn die Maus in einem stockfinsteren Kerkerbereich die Umgebung mit einem kurzen Streich ihrer mitgeführten Feuersteine erhellt?

    Achja, Updates! –> Schon gemerkt, dass das zweite Bugfixing in 2 Tagen rausgekommen ist?

    P.S.: Merkt man mir sehr auffällig an, dass mich diese Spiel gepackt hat?

  10. …Apropos atmosphärische Texte –> Schon mal die Beschreibung der Herkunft der Lieder im Liederbuch des Barden durchgelesen?

    …Apropos… Okok, ich hör ja schon auf… (*grins*)

  11. Na super. Eigentlich wollte ich warten, bis mehr vom Spiel verfügbar ist, um mir das Spiel nicht selbst zu spoilern. Da schreibtst du so einen Text. Danke auch. Hat GOG mal wieder Geld verdient.

  12. Hey, da hat Tim Berners-Lee den Link zu anderen Seiten gelassen, falls es Dir hier nicht mehr gefällt!!

    😛

  13. Es sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass auch ein sehr sehr schönes kooperatives Brettspiel names „Maus und Mystik“ mit sehr ähnlichem (putzigem) Setting existiert.

  14. Oh ja! Zu dem kürzlich (?) übrigens eine schön gemachte Hörspiel-CD erschien, in der alle Textpassagen der Kampagne stimmig vorgelesen werden.

    Desweiteren gibt es da noch die Mouse Guard Comics eines gewissen David Petersen, die in eine ähnliche Kerve schlagen. Massig Futter für Mäusefans.

  15. Nachtrag: Das Spiel wurde gestern direkt angetestet. Ich bin begeistert und meine Frau erholt sich gerade langsam vom Zuckerschock. Ich glaube im Gefängnis und Abwasserkanal bin ich soweit durch. Jetzt müsste es irgendwo beim Innenhof weitergehen. Da hab ich bis jetzt aber nur kurze Rundgänge entdeckt und keine weiterführende Tür. Dass es, bis auf meinen ersten Besuch dort, immer Nacht war machte die Suche nicht einfacher. Die kleine Laterne hilft in der großen Umgebung nicht wirklich.

  16. Lustig… ich habe Anfangs immer „Ghost of a Tail“ gelesen 😀 Erst am Ende des Artikels ist mir dann aufgefallen, dass der (die? das?) „Tail“ maximal hinten an der Maus zu finden ist, aber nirgends im Text vorkommt.

    Bin auch gerade knapp davor, das allererste Mal in meinem Leben was für ein eigentlich verhaßtes „Early Access“ auszugeben. Ich kann dem Knuddelfaktor auch nicht widerstehen.

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